Für die zuhörenden Schülerinnen und Schüler ist es nicht irgendeine Geschichte. Ruth Stein ist die Nichte von Erich Waldeck, Maya dessen Tochter. Und Erich Waldeck war – ebenso wie der versammelte Kurs – Schüler des Schlaun-Gymnasiums.
Für ihn, Kurt Julius Goldstein und Erich Steinberg hatten Schlaun-Schülerinnen und -Schüler schon im letzten Schuljahr Gedenktafeln entworfen und im Schulgebäude angebracht. Erich Waldeck (Jg. 1915) verließ das Schlaun 1932 und wanderte angesichts der zunehmenden Ausgrenzung und Entrechtung der Jüdinnen und Juden 1936 von Münster ins damalige Palästina aus. Später lebte er in den USA und in Montreal/Kanada. Auch seine Geschwister verließen das Deutsche Reich. Seine Eltern, Henny und Carl Waldeck, hat Erich nie wieder gesehen. Sie blieben in Münster, wurden 1942 deportiert. Carl starb 1944 in Theresienstadt. Henny Waldeck wurde im Mai 1944 in Auschwitz ermordet.
Bei ihren Recherchen Ende 2023 stießen die Schülerinnen und Schüler im Schlaun auf die Namen von Erich Waldecks Angehörigen. Sie schrieben seine Töchter (Maya in Montreal und Tirza in Israel) sowie seine Nichte (Ruth in Syracuse/US-Bundesstaat New York) an. Im Januar 2024 verabredeten sich alle zu einem Videogespräch. Dieses Gespräch war für alle Beteiligten emotional und mitreißend.
Dass Ruth und Maya in diesen Tagen aus Kanada bzw. aus den USA anreisten und die Gedenktafel für ihren Onkel und Vater im Schlaun-Gymnasium am 10.12. persönlich in Augenschein nehmen konnten, war einem besonderen Anlass geschuldet. Das Stadtarchiv veranstaltet am 11.12. in Kooperation mit dem Institut für vergleichende Städtegeschichte eine Lesung von Briefen der Familie Waldeck. Die Briefe zwischen Carl und Henny, ihren Kindern und deren Partnern spiegeln die bewegenden Herausforderungen, Zumutungen und Hoffnungen des Exils und der Entrechtung in Deutschland wider. Vorgelesen werden die Briefe von Schülerinnen und Schülerndes Schlaun (zur Projekthomepage).
„Als Kulturgymnasium begreifen wir natürlich auch die Erinnerungskultur als unseren Auftrag. Diese wird bei uns durch schulgeschichtliche Bezüge zur Erkenntniskultur und zum Zukunftsgedächtnis“, erläutert Sowi- und Geschichtslehrer Carsten Rothaus.
Für die Lernenden ergänzt Emily Herber: „Wir haben den Völkermord an den europäischen Juden im Zuge unserer Schullaufbahn mehrmals thematisiert. Doch im direkten Gespräch über persönliche Erlebnisse und konkrete Familiengeschichten entstehen ganz neue Einsichten und Vorstellungen.“ Neben den allgemeinen Darstellungen in Schulbüchern bietet die direkte Kommunikation Eindrücke und Einsichten, die einen wertvollen, ergänzenden Zugang zu den historisch beispiellosen Verbrechen des Holocaust eröffnen können. Erinnerungskultur wird hier zur gelebten, authentischen und persönlichen Dialogkultur.